Christen und Politik. Sollen Christen Politik betreiben? (Vortrag beim Schweiz. Protest Volksbund Thurgau)

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Sehr geehrter Herr Präsident

Sehr geehrte Damen und Herren

Es hat mich offen gestanden etwas überrascht, als ich von Ihrem Präsidenten eingeladen wurde, anlässlich  der Besinnung zum Bettag einen Vortrag in Ihrem Kreise zu halten zum engern oder  weitern Thema Christentum und Politik. Ich bin nämlich nicht Theologe, sondern Jurist und ich bin zwar Mitglied der Evang. Landeskirche  aber nicht speziell aktiv. Ich halte kein Referat mit wissenschaftlichem Anspruch und kann deshalb auf Zitatennachweise gelegentlich verzichten.

Ich darf annehmen, dass ich eingeladen wurde, weil ich vor einiger Zeit im Kirchenboten zur Frage, ob Christentum nützlich sei, diese Fragestellung selbst etwas in Frage gestellt habe, indem ich – wohl provokativ – bemerkte, es komme wohl  eher auf den Glauben selbst an, nämlich auf die Begegnung mit Gott, in welcher Wahrheit aufscheint, und weniger darauf, ob das Christentum dem Staat oder der Gesellschaft nützlich sei. Ich weise noch darauf hin, dass ich Mitglied der SVP bin und Kantonsrat für den Bezirk Frauenfeld. In diesem Sinne bin ich natürlich der Ansicht, dass Christen Politik betreiben sollen, denn ich bin ja Politiker und finde also, dass es notwendig sei, Politik zu betreiben. Die Frage ist aber, ob Christen Politik betreiben sollen, weil sie Christen sind – oder weil sie Mitglieder der Gesellschaft sind.

Christian Lohr, der andere Politiker, welcher im erw. Kirchenboten befragt wurde, hat, wie das heute üblich ist, „main stream“ gleichsam, darauf hingewiesen, dass Kirchen sozial tätig und damit für Gesellschaft und Staat nützlich seien. Für mich aber, ich wiederhole mich, ist das nicht die zentrale Botschaft, die die christliche Kirche aussenden sollte, es ist nicht – um es in der  Marketingsprache zu sagen –  der USP ( unique selling proposition).

In der  NZZ vom 16. Juli 2011 hat Prof. Otfried Höfe von der Universität Tübingen unter dem Titel „Glaube und Vernunft im säkularen Staat“ eine gewisse Sonderstellung der  christlichen Kirchen damit gerechtfertigt, dass sie über Generationen hinweg  fürs Gemeinwohl „im Bereich von Krankenhäusern, Schulen, auch in der Entwicklungshilfe“  tätig gewesen seien. Und: „Da in unsern Städten und Dörfern Kirchen, in der Landschaft Kapellen und Wegkreuze stehen, sollten Schulkinder die einschlägigen kulturellen Kenntnisse erwerben“. Und jetzt zitiere ich noch den entscheidenden Satz, welcher für mich das zentrale – aufklärerische – Missverständnis des christlichen Glaubens dokumentiert: „Den Kern dessen, was eine Religion ausmacht, bildet eine konfessionsunabhängige, autonome,  daher universale Moral“. Ich bin nicht dieser Meinung, der Satz ist jedenfalls für das Christentum wie für den Islam schlicht falsch. Am Schlusse meiner Ausführungen werde ich zeigen, dass der neue Präsident des Evang. Kirchenbundes der Schweiz offenbar auch dieser meiner Meinung ist. Und ich gehe noch weiter: Warum eigentlich betreiben christliche Kirchen heute Entwicklungshilfe unter dem Schlagwort „Brot für alle“? Warum wird nicht schlicht Mission betrieben, das Evangelium verkündet? Um nicht missverstanden zu werden: Selbstverständlich gibt ein Christ dem Hungernden Brot, teilt mit dem Frierenden den Mantel. Aber das ist nicht das Kerngeschäft, Kerngeschäft ist der Glaube selber.

Offenbar sehen das andere anders. Zum 1. August dieses Jahres hat die Schweizer Bischofskonferenz, vertreten durch den Einsiedler Abt Martin Werlen, einen  bedeutenden Theologen, eine Botschaft veröffentlicht unter dem Titel „Die Kirche ist politisch“. Allein schon der Titel stimmt mich skeptisch. Ich habe ein anderes Verständnis von Politik. Politik ist für mich in  erster Linie Gestaltung des  staatlichen Lebens, Gestaltung der Zukunft mit den Mitteln von heute. Neben der Politik gibt es z. B.  noch – und ich betone das als prononciert  bürgerlicher Politiker – das Privatleben, das der Öffentlichkeit  entzogene Leben.  Wörtlich sagt indes Abt Werlen: „Die Kirche fordert Gerechtigkeit für alle Menschen als Voraussetzung für Frieden. Sie setzt sich für sozialen Ausgleich und soziale Absicherung für alle ein. Sie erhebt ihre Stimme, wo Menschen sich egoistisch auf Kosten anderer bereichern“. Oberflächlich gesehen kann man dem vielleicht zustimmen aber bei genauerer Analyse dieser Äusserung erheben sich Fragen über  Fragen, wobei es hier an Platz fehlt, sie alle zu stellen und zu beantworten. Entsteht der Friede tatsächlich aus Gerechtigkeit? Gibt es nicht das Böse schlechthin, unabhängig von jeder zeitbedingten menschlichen Ordnung? Ist es der Staat (das insinuiert Abt Werlen nämlich, auch wenn er es nicht ausdrücklich sagt), der für diese sog. Gerechtigkeit  sorgen muss? Was heisst Gerechtigkeit überhaupt? Es ist ein sog. „Wieselwort“ – unter uns Juristen sind solche Begriffe gefürchtet, wir sagen dem „unbestimmter Rechtsbegriff“ – und  unter dem jeder etwas anderes versteht und verstehen kann. Der Zeitgeist meint mit Gerechtigkeit Gleichheit. Gleichheit wird wiederum ganz unterschiedlich verstanden. Kann der Staat überhaupt das sog.  Gerechtigkeitsproblem lösen, der Staat, der selber ein Problem ist? Der grosse Irrtum des Sozialismus besteht doch darin, dass er glaubt das, was in der kleinen und natürlichen Gemeinschaft der Familie funktioniert, auf ein grosses Kollektiv übertragen zu können. Das ist noch nirgendwo gelungen. Brechen die europäischen Sozialstaaten nicht gerade heute zusammen? Jedenfalls wende ich mich aber entschieden gegen die Auffassung, der Umverteilungsstaat europäischer Prägung der neuesten Zeit sei christlich oder sei mindestens ähnlich dem, was Christus gefordert habe. Wer so etwas sagt,  verwischt den Unterschied zwischen dem Reich Gottes und dem Reich dieser Welt, der läuft Gefahr, den Staat zu vergöttlichen.

Bevor ich auf die vom Veranstalter gewünschten konkreten politischen Themen eingehe, ist  es nun nötig, das Verhältnis von Christ und Welt kurz gleichsam theologisch zu zeichnen:

Die wesentliche westeuropäische Sonderentwicklung in der Weltgeschichte besteht im mittelalterlichen Kampf zwischen Kaiser und Papst.  Augustinus wie auch Luther haben entsprechend die Lehre von den zwei Reichen entwickelt. Luther  unterscheidet ein  Reich Gottes zur Rechten, das Reich der innerlich Guten vom Reich Satans zur Linken, der innerlich Bösen.  Der Staat hat in dieser Lehre von den zwei Reichen die Aufgabe, die Bösen zu strafen und die Frommen zu schützen mittels des Schwertes und des Gesetzes, damit eine wenigstens äusserliche Ordnung hergestellt werden kann.

Eine Gleichsetzung von Staat und Kirche wird von den Reformatoren also klar abgelehnt. Gemäss Luther wäre das Totalitarismus. Ein Staat, der den Anspruch erhebt, auch die Seelen zu besitzen, wäre ein „tyrannus universalis“. So erklärt sich der leidenschaftliche Kampf Luthers gegen die Türken. Luther erkannte, dass der Islam die Unterscheidung zwischen Reich Gottes und Reich dieser Welt nicht kennt. Der Islam  hat direkt für diese Welt anwendbare und bindende gesetzliche Vorschriften. Das kennt Christus nicht, die Bibel ist kein Rezeptbuch für politisches Handeln. Luther hat ja auch und da haben wir demokratischen Schweizer etwas Mühe, das zu verstehen, sich scharf  gegen aufständische Bauern  gewandt. Nicht dass die Bauern für Abschaffung oder Linderung der Feudallasten, für mehr weltliche Freiheit kämpften, störte ihn, sondern dass sie das unter Berufung auf Christi Lehre taten. „Christus macht die Seele frei und nicht den Leib“ formulierte der Reformator Deutschlands schroff. Aus ähnlichen Überlegungen heraus wandte sich ja der Schweizer Reformator Zwingli auch gegen die damalige Täuferbewegung,  auch wenn er in diesen Fragen sonst kompromissbereiter war als Luther.

Luther stand ja auch der Vernunft, sofern sie allumfassend herrschend werden wollte, skeptisch gegenüber. Er nannte sie einmal sogar eine „Hure“ und meinte damit die gerade in der Neuzeit wieder so auffallende Anfälligkeit der Intellektuellen für zeitgeistige Strömungen. Im 20. Jahrhundert waren dies  Kommunismus und Faschismus.

Wir Christen sollten in der Politik also nicht das Heil sehen, wir sind zwar in der Welt aber nicht von dieser Welt. Politik ist nach einem Wort Bismarcks ein System von Aushilfen, nicht mehr. Das Wort von Abt Martin Werlen, die Kirche müsse politisch sein, ist also falsch – aber er ist ja auch nicht reformiert! Di Katholische Kirche erhebt mitten der Lehre von der „res mixtae“ eben den Anspruch, sich zu gewissen politischen Fragen äussern zu können.

Nach diesem Exkurs in die Theologie kann ich nun also getrost  auf den eigentlich politischen Teil meines Vortrags kommen, ohne dabei in den Verdacht zu geraten, ich würde den Anspruch erheben, christliche Politik zu verkünden, das gibt es nämlich nicht, vielleicht gibt es aber den christlichen Politiker, aber das ergäbe wohl wiederum eine Diskussion für sich.

Ich bin also nicht der Ansicht, dass es eine christliche Politik gibt oder dass die Bibel für das politische Tagesgeschäft gleichsam Anleitungen gibt. Wohl aber bin ich der Überzeugung, dass es eine christliche Kultur und Geisteshaltung gibt, welche uns durchaus Hinweise gibt, wie wir uns in der Politik verhalten sollen.

a)       Meine Kritik am Wohlfahrtsstaat

„Der Wohlfahrtsstaat ist ein System, das durch progressive Steuern und obligatorische Versicherungen Gelder einzieht, um sie anschliessend wieder zu verteilen“ (Pfr. Peter Ruch in „Eigenständig“ Zch 2002). Jedes Jahr arbeiten wir heute bis in den Juli für obligatorische Abgaben. Die Folgen dieses Systems sind u.a.

–          Sinkendes Verantwortungsbewusstsein der Bürgerinnen und Bürger für ihr eigenes Auskommen

–          Erhöhte Anfälligkeit des Missbrauchs durch die Staatsbewohner und ebenso erhöhte Anfälligkeit staatlicher Organe auf Missbrauch und Korruption

–          Anreiz zum Ausweichen jener, die die Möglichkeit dazu haben (Flucht in die Exterritorialität)

In dem Masse wie die staatlichen Sozialinstanzen voranschreiten bilden sich ursprüngliche Solidarverbände (Familien, Nachbarschaften etc.) zurück. Dafür nimmt die  Macht der Amtsträger zu, ebenso der Zentralismus. Eine Grundkategorie des Menschlichen, die gegenseitige Anteilnahme und Hilfestellung, wird in die Sphäre der amtlichen Erledigung transferiert. So nähern wir uns einer Art demokratischem Absolutismus. Der Wohlfahrtsstaat ist masslos, er erfordert immer mehr Mittel, denn die Begehrlichkeiten nehmen immer mehr zu. Mit christlicher Nächstenliebe hat das Umverteilungsprogramm des Sozialstaates nichts zu tun.

Aber nicht nur Katholiken wie Abt Werlen hängen der politischen Kirche nach. Der reformierte Theologe Andreas Peter z.B. forderte im „Wort zum Sonntag“ tatsächlich ein „bedingungsloses Grundeinkommen“. Das entspreche dem Gleichnis vom Weinberg und sei biblisch. Zudem redete er im eigentlich neutralen Fernsehen einer nationalen Erbschaftssteuer das Wort. Pfarrer Peters Propaganda entsprach exakt der zufällig drei Tage später präsentierten Volksinitiative von linken Parteien und Gewerkschaften. Der Gottesmann ereiferte sich über den „Geldadel“ und sagte: „Die allermeisten Menschen in der Schweiz, also Sie und ich, müssen nichts bezahlen.“ Merken sie etwas: Da versteckt einer Eigennutz, Populismus und demagogische Plünderungsfantasien hinter einem christlichen Deckmantel. Was ist unchristlich, wenn eine Familie für die nächste Generation vorsorgt? Warum sind für die Kirchen sämtliche Minderheiten schützenswert, nur nicht diejenigen, die arbeiten? (Chr. Mörgeli in der Weltwoche)

Bei der biblischen Nächstenliebe geht der Impuls der Hilfeleistung  vom Helfenden aus. Im Sozialstaat geht der Impuls hingegen vom Anspruch aus, den der Staat im Namen der Bedürftigen stellt. Damit ist nun der Niedergang der  Nächstenliebe verbunden: Ich habe ja meine Pflichten durch die Steuerzahlung erfüllt.  Und so ist der Genosse des Sozialstaates nichts anderes als der Egoismus (nach Pfr. Ruch).

Im Übrigen erfordert das europäische Sozialstaatsmodell heute so viele Mittel, dass sie nur durch gigantisches Schuldenmachen beschafft werden können. Nachhaltig ist das nicht, wir leben auf Kosten der Nachkommen, eine Korrektur, ja vielleicht der Zusammenbruch dieses Systems ist unvermeidlich. Aus christlicher Warte müssen wir zugespitzt sagen: Der Wohlfahrtsstaat ist unchristlich. Der Wohlfahrtsstaat kann niemals den Anspruch erheben, christlich zu sein, bzw. christliche Werte zu verkörpern.

b)      Meine Kritik der Kritik der direkten Demokratie

Die Tendenz ist offensichtlich: Volksentscheide  die der politischen Elite nicht passen, werden möglichst nicht umgesetzt und es wird mit wechselnden Begründungen (nicht europakompatibel, völkerrechtswidrig, im Widerspruch zur europäischen Menschenrechtskonvention etc.) eine Art Vorzensur verlangt: Abstimmungen wie  Minarettverbot und Ausschaffungsinitiative sollen gar nicht mehr zugelassen werden bzw. vorläufig etwa harmloser mit einer „Warnung“ versehen werden. Das Volk darf eben nicht alles, wird gesagt. Vorweg: in 80% der Fälle, in denen Ihnen ein Jurist sagt, wegen irgendwelchen übergeordneten Rechten sei etwas nicht möglich, stimmt es nicht. Bei Politikern ist die Quote 90%.

Gehen wir dieser Debatte ein wenig auf den Grund.

Die Schweiz war nicht immer eine Demokratie, so wie wir sie heute kennen, bei der Gründung der Eidgenossenschaft im Jahre 1291 spielte die ländliche Aristokratie eine grosse Rolle, im Bundesbrief werden die Standesunterschiede  geschützt, auch hat die expandierende Eidgenossenschaft Untertanengebiete geschaffen (wie etwa den Thurgau). Eigentümlich war also zunächst nicht  die Demokratie. Sehr wohl   aber der Wille, fremde Einflüsse („fremde Richter“) auszuschalten und die Kontrolle über die wirtschaftlich interessanten Verkehrswege in den Alpen selber auszuüben. Eigentümlich war auch der stark entwickelte Föderalismus, ja Partikularismus, die Stände (heute Kantone) schlossen sich gerade deshalb zu einem Bunde zusammen, weil sie so einigermassen selbständig bleiben konnten.

Schon die Griechen und Römer  wussten, dass jede Staatsform an ihrer eigenen Übertreibung zu Grunde geh. Die Demokratisierung aller Lebensbereiche, also der Wirtschaft, der Familie etc. ist nicht überlebenstauglich. Nach Cicero ist die beste Staatsform eine kluge Mischung  von  Monarchie, Aristokratie und Demokratie. Das wäre im Einzelnen zu begründen.

Aber in der heutigen Diskussion geht es  nicht darum, es geht nämlich um den schon erw. Versuch von „classe politique“ und  Verwaltung,  im Bunde den Sonderweg der Schweiz seit 1291, 1803 und 1848, d.h. Föderalismus, direkte Demokratie und  Unabhängigkeit vom römischen Reich deutscher  Nation, heute Europäische Union genannt, aufzugeben und in den Mainstream der Europäisierung und Globalisierung einzuschwenken. Ich bin kein Romantiker, ich weiss genau, dass es eine absolute Unabhängigkeit, eine schrankenlose Souveränität nicht gibt. Wirtschaftlich war die Schweiz immer weltoffen, das soll auch so bleiben. Aber die Kunst der Politik besteht doch gerade darin, die diversen Abhängigkeiten auszubalancieren, die Gegensätze fremder Nationen und Interessen auszunützen um möglichst viel Handlungsfreiheit zu erstreiten. Handlungsfreiheit ist das Ziel jeder  wahren Strategie, sagte der französische Marschall Foch. Was sehen wir aber heute allzu oft:  Vorauseilenden Gehorsam (Musterschülersyndrom) gegenüber  Europa, Amerika, gegenüber den  zur Ideologie umgebogenen internationalen Konventionen. Ein Beispiel:  Der  Europäische Gerichtshof für Menschenrechte( EGMR)  hat bezüglich der Frage, ob Kruzifixe in italienischen Schulen erlaubt sein sollen, zwei konträre Urteile gefällt, einmal ja, einmal nein, was zeigt, dass der Inhalt der EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention) sehr unbestimmt ist. „Man sollte nicht präventiv vor dem EGMR in die Knie gehen. Einige seiner Urteile sind schlicht falsch, wie auch das Bundesgericht kürzlich festhalten musste“ (a. Bundesrichter Schubarth, er verweist hier am Schluss auf ein Urteil des EGMR, wonach die Grundversicherung der Krankenkassen die Kosten für eine Geschlechtsumwandlung  schon nach  eineinhalbjähriger Wartezeit übernehmen müsse). Das britische Unterhaus hat sich kürzlich geweigert, ein europäisches Urteil, wonach es menschenrechtswidrig  sei, Gefängnisinsassen das Wahlrecht abzuerkennen, zu akzeptieren.

Seien wir doch realistisch und ehrlich: In der globalen Politik, wie auch in der EU, gibt es bis heute kaum Demokratie. Ein so unverdächtiger Zeuge, wie der ehemalige thurgauische SP Kantonsrat Wolf Linder, heute emeritierter Professor der  Universität Bern, meint deshalb, dass bei einem Fehlen des Wechselspiels zwischen  Regierung und Opposition in der globalen Politik die schweizerischen Volksrechte auch eine Oppositionsrolle spielen dürften.  Eine Anschlussfrage: Woher kommt überhaupt dieser immer wieder zu  konstatierende Drang von Regenten  und Verwaltungsleuten, die Rechte des Volkes einzuschränken  oder umzubiegen, diese ständige  Reglementierwut und Gleichmacherei? Sind denn das alles böse Menschen? Nein, gewiss nicht, es sind eigentlich Menschen wie wir alle auch.  Der kürzlich verstorbene Otto v. Habsburg  sagte dazu: Jeder Mensch ist von Natur aus ein Zentralist und zwar ganz einfach deshalb, weil er davon überzeugt ist, dass er seine  Sache gut macht, dass er recht hat – und hat er nun Macht, will er, dass auch die andern Menschen so tun wie er.

Und darum ist die direkte Demokratie eine so gute Erfindung, sie korrigiert, sie beschränkt  die Macht von Verwaltung und Regierung, sie bleibt eher auf dem Boden der Realität als es die ideologischen Konstrukte der Elite tun, welche unsere Demokratie auf sanftem Weg nur noch funktionärstauglich machen wollen.

c)       Meine Kritik an der EU

Für den, der mir bisher zugehört hat, muss ich zu diesem Thema nicht mehr allzuviel sagen.  Die EU ist ein kaum mehr demokratisch zu nennendes Gebilde. Die wichtigen Entscheidungen werden von europäischen Kommissaren in Brüssel oder vom Ministerrat getroffen. In einer Krisenlage – und die EU ist eigentlich periodisch in einer Krise – entscheiden in Wirklichkeit allein der französische Staatspräsident  und die deutsche Bundeskanzlerin. Was diese beiden Persönlichkeiten im Zwiegespräch beschliessen, kann kaum mehr verändert werden.  Die Parlamente der EU – Staaten haben ihre wichtigsten Rechte bereits  an Brüssel abgetreten, Wahlen zu den Parlamenten nützen deshalb nichts mehr, der Bürger kann keine entscheidenden Änderungen mehr erzwingen. Verbreitet ist deshalb ein Ohnmachtsgefühl, reisen Sie nach Deutschland oder Frankreich und sprechen Sie mit dem sog Mann auf der Strasse und Sie werden es hören.  Volksabstimmung gibt es auch nicht, Korrekturen durch den Stimmbürger sind nicht  möglich. Vom Europa der Vaterländer, wie es de Gaulle und Churchill vorschwebte, von einem Friedensverbund, wie ihn die christlichen Parteien angehörenden Staatsmänner Adenauer, Schumann und de Gasperi konzipierten, ist die heutige EU weit entfernt.  Sie ist ein zentralisierendes,  sozialdemokratisch gleichmacherisches und vom Machbarkeitswahn erfülltes Monstrum geworden. Gerade was  Europa stark und einzigartig in der Welt gemacht hat, die Vielgestaltigkeit, der Wettbewerb zwischen den Nationen und Ideen, wird eliminiert.  Frau Merkel hat kürzlich gesagt: Ohne Euro gibt es kein Europa. Welch verhängnisvoller Irrglaube! Mit der Demokratie schweizerischer Prägung ist die EU schlicht unvereinbar.  Auch der bilaterale Weg hat uns vielleicht schon in eine zu weit gehende Abhängigkeit geführt.

Warum sind denn so viele schweizerische Politiker trotzdem – offen oder verdeckt – für einen Beitritt zur EU oder zumindest für weitere Annäherungen?  Ganz einfach: Es ist  bequemer, man muss dann schwierige  Entscheidungen nicht mehr selber treffen, man kann an allen Übeln Brüssel die Schuld geben, man ist das lästige  Volk zu Hause los, man glaubt vielleicht sogar der Völkerverständigung und dem Fortschritt zu dienen oder – und diese Haltung ist weitverbreitet – man hat  resigniert und denkt, man könne gegen ein Europa von 500 Millionen Menschen ohnehin  nichts ausrichten. Wer aber mit dieser Einstellung in Verhandlungen geht, hat schon  verloren!

Noch ein Wort zu einem Modebegriff der heutigen Politdiskussion in der Schweiz: Offenheit – alle fordern eine offene Schweiz. Schauen wir genau hin, was das wohl heisst. Die Schweiz war wirtschaftlich immer offen, auch kulturell war sie wegen ihrer Viersprachigkeit mit den Nachbarstaaten kulturell eng verbunden. Politisch war sie aber nicht offen, sondern widerborstig, 1291 gegen „fremde Richter“, im Schwabenkrieg gegen eine zentralisierende Monarchie, 1803 gegen den Französischen Einheitsstaat, 1848 gegen die konservative Restauration und dann gegen den Sprachnationalismus, im zweiten Weltkrieg gegen das Neue Europa Hitlers. Und heute?

d)      Meine  Kritik an einem leisetreterischen Christentum

Die Stellungnahmen des Evang. Kirchenbundes  der Schweiz zu Abstimmungsvorlagen ärgern mich meistens. Sie stellen eine Anmassung dar, weil sie mit dem Anspruch daher kommen, einen politischen Sachverhalt ethisch und moralisch werten zu können. In Abstimmungen geht es aber kaum je um gut oder böse, sondern höchstens um richtig oder falsch. Die Beurteilung hängt weniger von den Absichten einer gesetzgeberischen Vorlage ab, sondern von der Einschätzung von deren Folgen. Nehmen wir das Beispiel der Minarettinitiative, welche vom Kirchenbund bekämpft wurde. Ich bestreite natürlich nicht das Recht von einzelnen Mitgliedern der Kirche, sich zu politischen Fragen zu äussern. Im vorliegenden Fall gebe ich aber zu bedenken,  dass die Haltung der christlichen Kirche zum Islam auch schon anders war, dass sogar im Namen Christi  Kreuzzüge geführt wurden und die damaligen Christen waren sicher, das Rechte zu tun.  Nun rufe ich natürlich nicht zu Kreuzzügen auf, frage mich aber, wo und wann die sog.  Toleranz und Offenheit, der Respekt gegenüber einer andern Religion,  in Gleichgültigkeit, Leisetreterei umschlägt oder gar schlicht Ausdruck mangelnder eigener  Überzeugung ist. Angela Merkel  wurde  getadelt, weil sie sich über die Tötung von Bin Laden freute.  Man kann da verschiedener  Meinung sein, Christentum mit Pazifismus in dieser unserer Welt gleichzusetzen geht aber nicht. Viele im Westen meinen wohl – und ich zitiere nun Redaktor Meyer von der NZZ – „dass die Entwicklung unserer Gesellschaft dazu führe, dass vielleicht  es nur noch Parkplatzsünder gebe, die man büssen müsse. Die Politik wird solch naive Hoffnung auf eine bessere Welt durchkreuzen“.

Ayaan Hirsi Ali, die als   Muslimin erzogen wurde und in die Niederlande flüchtete und dort zu einer Kämpferin für die Redefreiheit wurde und deswegen bewacht werden muss, sagt:

„Europäer sind sich zu wenig bewusst, dass die Freiheit erkämpft werden musste … Es gibt diese Wahrnehmung unbesiegbar zu sein – als könne hier in Europa nichts Schlimmes  passieren … In Europa leben 700 Millionen Menschen … in den muslimischen Ländern leben 1,7 Milliarden Menschen. Europa ist eine Minderheit. Wer den Islam nicht wirklich kennen gelernt hat, versteht ihn nicht.  Sein Ziel ist die Einrichtung eines totalitären islamischen Staates … mit der islamischen Religion als Quell der Gesetzgebung. Nicht alle, die sich zum Islam bekennen, streben ein solches theokratisches Regime an. Aber ich halte die von vielen Europäern in Unkenntnis der Lage übernommene Trennung  zwischen den vielen guten und den wenigen bösen Islamisten für falsch .. der Islam als politische Ideologie trägt klar totalitäre Züge im Sinne einer kollektivistischen Ideologie, für die das Individuum als solches keinen Wert hat.“ (Schweizer Monat Juli/August 2011)

Schlusswort

Als sie mich eingeladen haben, haben Sie wohl so viel von mir gewusst, dass Sie mit Verstössen gegen die sog.  „political correctness“ rechnen mussten.

Ich möchte nun aber zum Schluss nicht mit eigenen Worten provozieren, sondern mit jenen des neuen Ratspräsidenten des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK), Gottfried Locher.

Bei seinem vor kurzem erfolgten Besuch im Thurgau meinte er gemäss einem Bericht des Kirchenboten in seiner Ansprache an die Kirchenpräsidenten:

Die  reformierte Tradition werde immer kleiner. Und wörtlich: „Wir sind die Kirche der Reformation und nicht der Resignation. Uns erwartet eine andere Schweiz.“ Es gehe darum, sich auf das Wesentliche zu besinnen. Und wiederum zitiere ich: „Alleine Christus, alleine die Bibel, alleine aus Glauben und alleine aus Gnade.“

Und – hören Sie nun gut zu: „Die meisten  Schweizer  sind gute Muslime, weil sie glauben, dass Christus ein Prophet ist. Das Problem ist, dass sie nicht glauben, dass Christus Gott ist.“

Dazu muss ich nichts mehr sagen, dieses Wort steht für sich und damit beende ich mein Referat und danke Ihnen für das Zuhören.

Weinfelden, 11.9.2011

Hermann Lei

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